Die Deutsche Trachtenjugend ist mit dabei
Wo befindet sich der größte Bauplatz in Europa? Ohne Zweifel in Warschau! Schon bei der Anfahrt auf die Stadt beeindruckt die Skyline, die von Hochhäusern aus Glas und Stahl bestimmt wird. An vielen Ecken drehen sich Baukräne, werden Straßen wegen Baustofflieferungen gesperrt oder das Gedröhn der Presslufthämmer übertönt die Unterhaltungen. Warschau lebt in Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Deshalb war die polnische Hauptstadt genau der richtige Ort für das trilaterale Seminar zum 75. Jahrestag des Aufstandes im Warschauer Ghetto. Die Deutsche Trachtenjugend war als Mitglied des Deutschen Bundesjugendringes (DBJR) natürlich vier Tage lang dabei.
Zentrales Thema: Welche Rolle übernehmen Jugendorganisationen heute in der Gesellschaft, damit sie menschlich und solidarisch sein kann?
Geschichte muss man nicht nur mit Fakten und Zahlen begreifen, sondern vor allem verstehen. Rebellion. Revolte. Widerstand. Begriffe, die in Deutschland, Polen und Israel unterschiedlich bewertet werden. Auf der Suche nach Unterschieden und Gemeinsamkeiten waren so Mitte Mai 2018 rund 50 junge Menschen aus Israel, Polen, Deutschland, Tschechien und Österreich bei dem gemeinsamen Seminar des DBJR mit dem israelischen und polnischen Jugendring dabei. Der Widerstand im Ghetto, aber auch der polnische und deutsche Widerstand während des Zweiten Weltkrieges waren einige wichtige Themen in den Workshops.
Den Widerstand würdigen
Eine der ersten Exkursionen des Seminars führte in das Museum des polnischen Widerstandes. Es wurde 2004 eröffnet und zeigt deutlich, wie sehr die Erinnerung an diese Jahre für Polen eine Grundsatzangelegenheit darstellen. Keiner überhört den lauten Herzschlag, der in einer Installation gleich beim Betreten der Ausstellung erklingt. Im Museum wird vor allem auf Emotionen gesetzt: Der Puls verkörpert die Zeit des Widerstandes und den Aufstieg der polnischen Hauptstadt nach dem Zweiten Weltkrieg und der politischen Wendezeit um 1990. Durch zahlreiche Leihgaben und Stiftungen verbanden sich Einwohner der Stadt und weitere Spender mit ihrem Museum. Viele ältere Menschen hüteten über Jahrzehnte Erinnerungsstücke, die sie an die Jahre der deutschen Besatzung und das Engagement dagegen erinnern. Im Jahr 2003 erfolgte der erste Aufruf an die Bürger, Stücke für das in der Entstehung begriffene Museum zu spenden. Über 70000 wertvolle Dinge kamen, mit denen die Geber vor allem sehr persönliche Erlebnisse verbanden. So z.B. das Foto eines jungen Mannes, dessen Mutter sein Grab niemals fand und nicht weiß, ob er überhaupt begraben wurde, oder die Armbinde eines medizinischen Helfers. Exponate mit Symbolkraft.
Helden des Ghettos, junger Widerstand
Der „Umschlagplatz“ im Warschauer Zentrum bildete die nächste Station. Die deutsche Bezeichnung meint die Stätte, auf der die Juden für den Transport in die Vernichtungslager zusammengetrieben wurden. Heute kennzeichnet ein Denkmal diese Stelle. Es wurde einem Eisenbahnwaggon nachempfunden und erinnert zugleich an die Steingräber, die zum Teil auf Warschauer Friedhöfen zu finden sind. Hinter dem Monument steht ein Baum. Er stammt noch aus der Zeit des Ghettos, grünt und wächst seitdem weiter. Deswegen öffnet sich das Umschlagplatzdenkmal mit einem schmalen Spalt zu dieser Pflanze. Das Leben geht weiter, es grünt und gedeiht.
Unmittelbar an das Denkmal schließt sich der Weg mit den Stelen für die Helden des Ghettos an. Hier wird z.B. Janus Korzak gedacht. Der bedeutende Pädagoge ging freiwillig mit ca. 200 Kindern seines Waisenhauses zum Abtransport in das Vernichtungslager Treblinka.
Die Akteure des Widerstands im Warschauer Ghetto hatten ihr bisheriges Leben, Familie und Freunde, verloren. Die meist noch Jugendlichen standen vor dem Aus ihres gewohnten Daseins. Das Elend im Ghetto und das Dahinvegetieren bauten Resignation auf und steigerten die Wut auf die Nazis, die diese Lage gebracht hatten. Der Weg in den Kampf zeigte der Welt, dass die Juden des Ghettos zum Kampf bereit waren und sich nicht wie die Lämmer zur Schlachtbank führen ließen.
Edelweißpiraten für jugendliche Selbstorganisation
Im Rahmen der Workshops kamen auch deutsche Widerstandsbewegungen ins Gespräch. Die meisten waren hier für die Seminarteilnehmer neu. Nicht nur Trachtenvereine haben das Edelweiß im Namen. Die „Edelweißpiraten“ waren auch keine moderne Rockgruppe aus den Zeiten der Neuen Deutschen Welle, sondern mit ihren Aktionen als selbstorganisierte Jugendgruppe im Dritten Reich aktiv gegen die Nazis. Sie unternahmen Wanderungen, Fahrten und hatten Mitglieder beiderlei Geschlechts. In Zeiten von Hitlerjugend und BDM war das ein Unding. In ihren Liedern taten die Edelweißpiraten offen kund, was sie vom Führer hielten: „Was kann das Leben Hitlers uns geben, wir wollen frei von Hitler sein.“ Derartiges Engagement brachte die Verfolgung der Gestapo und zum Teil öffentliche Hinrichtungen für die aktiven Mitglieder.
Widerstand, Rebellion: Marksteine der Geschichte
Widerstand setzt Marksteine in der Geschichte. Der Aufstand im Warschauer Ghetto stellt einen besonderen Markstein dar. Widerstand ist eine Hoffnung, eine Hoffnung auf ein besseres Leben, eine Hoffnung auf die Beseitigung unzumutbarer Zustande. Wie soll man Widerstand bewerten? Gibt es Widerstand, der besser ist? Dazu gab es unterschiedliche Meinungen bei den Teilnehmern der Workshops. Aber jede Form des Widerstandes wächst als Pflanze, die Hoffnung und einen Lichtschein in der Dunkelheit setzt. Egal, ob für eine kleine Menschengruppe oder für viele.
Israelischer Wein zum Shabbat
Das Shabbatmahl nahmen allen Seminarteilnehmer am Freitagabend gemeinsam mit der israelischen Delegation ein. Brot, Wein und Kerzen spielen dabei eine besondere Rolle. Es gab den fruchtigen Wein aus Israel, den nicht nur die Deutschen besonders gut fanden. Es wurden Lieder gesungen, traditionell trägt man zu diesem Mahl helle Oberbekleidung, es ist eine festliche Angelegenheit. Manche Israelis sind gar nicht religiös, manche dagegen sehr und sie pflegen die alten Riten und Bräuche ganz besonders. So war es z.B. so, dass einige Israelis während des Shabbat nicht fotografiert werden wollen. In Israel selbst ruht am Shabbat die Arbeit, viele Familien verwenden keine technischen Geräte. Der Tag gilt der Familie, der Ruhe und der Schöpfung.
Jugendverbände haben Verpflichtungen und übernehmen Verantwortung
Bei der Podiumsdiskussion zur Aufarbeitung des Widerstandes in den unterschiedlichen Ländern konnte man mit Immanuel Benz einen der ehemaligen stellvertretenden Vorsitzenden des DBJR als Moderator wieder treffen. Drei Wissenschaftler aus Polen, Israel und Deutschland tauschten ihre Meinungen und Standpunkte aus und beantworteten Fragen der Seminarteilnehmer. Dabei kam die unterschiedliche Art der Erinnerungskultur deutlich zum Ausdruck. Dr. Katrin Stoll als deutsche Vertreterin erläuterte, dass im Gegensatz zu Israel und Polen in Deutschland die Erinnerung an Holocaust und Widerstand in der Regel eine öffentliche Angelegenheit darstellt, das eine private Gedenkkultur dafür nicht existiert. In den anschließenden Workshops wurde betont, welche Rolle die Jugendverbände als selbstorganisierte Zusammenschlüsse dabei spielen, nämlich eine ziemlich wichtige. Zwar steht an erster Stelle ihrer Arbeit naturgemäß das Anliegen des Verbandes, an zweiter Stelle aber sind die Werkstätten der Demokratie. Und gerade hier wird es besonders wichtig, auf die Erinnerungskultur zu Widerstand und Holocaust einzugehen. Nonformale Bildung, die im Jugendbereich üblich ist, eröffnet dabei größere Wege als etwa das reine Faktenwissen in den Schulen. Geschichte soll eben nicht nur an Fakten gelernt, sondern vor allem verstanden werden. Nur so können Lehren gezogen werden, die eine bessere Zukunft ermöglichen.
Eindrucksvolle Gedenkveranstaltung mit Blick in die Zukunft
Die unterschiedlichen Perspektiven auf den Aufstand im Warschauer Ghetto machten das gemeinsame Seminar mit dem polnischen und israelischen Jugendring besonders interessant. Auch 75 Jahre nach dem Ereignis wollen und müssen junge Menschen gemeinsam Verantwortung tragen, aus der Erinnerung zu lernen. Das bekundete die gemeinsame Gedenkveranstaltung am Denkmal der Helden des Warschauer Ghettos, zu der die Jugendringe der drei Länder eine gemeinsame Erklärung unterschrieben und Blumengebinde niederlegten.
Als sich die Teilnehmer des trilateralen Seminars wieder abreisten, schauten manche noch einmal auf die Wolkenkratzer der polnischen Hauptstadt zurück. Warschau ist eine Stadt, die lebt. Mit der Geschichte, in der Gegenwart für die Zukunft. Und mit den Verpflichtungen, die ihr die Geschichte für die Zukunft auferlegt hat. Die Jugendverbände sind sich ebenso ihrer Verpflichtung für das zukünftige Leben bewusst.
„Im Geiste unserer länderübergreifenden Freundschaft erklären wir als Vertreter von Jugendbewegungen und Jugendorganisationen, dass wir unsere gemeinsamen Lern- und Bildungsaktivitäten fortsetzen. Wir werden die Erinnerung an die Shoa wach halten und uns gemeinsam für eine gerechtere, lebenswerte Zukunft für alle Menschen dieser Welt einsetzen.“
Aus der Erklärung der Jugendorganistionen aus Israel, Deutschland und Polen anlässlich des 75. Jahrestages des Aufstandes im Warschauer Ghetto
Text und Foto: Dirk Koch